Auszug aus: Liebe Leben -- Homosexualität und die Vielfalt der Lebensformen in Zeiten der Individualisierung, Flensburger Heft 68, März 2000, Unterkapitel aus dem Kapitel "Sozialformen der Liebe", S. 101-108



 
 

Die Vielfalt der Lebensformen in der Diskussion


Das Idealbild von der intakten, vollständigen Familie ist auch unter Anthroposophen weit verbreitet. Das auf Rudolf Steiner zurückgehende Gedankengebäude der Anthroposophie scheint der traditionellen Rollenverteilung von Mann und Frau neue Nahrung zu geben -- dies könnte jedenfalls befürchtet werden, wenn man das aus anthroposophischen Kreisen wohl erste programmatische Werk über "Spirituelle Grundlagen einer menschengemäßen Hausmütter-Arbeit" liest. Sein Autor, Manfred Schmidt-Brabant -- Vorstandsvorsitzender der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft mit Sitz in Dornach/Schweiz -- setzt sich das Ziel, eine "Spiritualisierung des Haushalts als Keimzelle einer neuen Mysterienkultur" anzuregen:

"Ein Europa als Kontinent der Freiheit, als Kontinent der Liebe entsteht nicht in Brüssel und nicht in Berlin; ein solches Europa geht vom individuell gestalteten Urelement der Gesellschaft aus: vom Haus, von der Familie, von der Hausmutter."
Der Autor scheint dabei aber wie selbstverständlich davon auszugehen, daß der Haushalt ausschließlich von der Frau, eben der "Hausmutter", zu besorgen ist. Wo der gesellschaftliche Diskurs längst das Teilen der Hausarbeit und job sharing thematisiert, soll die Hausfrau nach Schmidt-Brabant ihre Arbeit durch Übungen und Meditationen spiritualisieren:
"Heute muß der Schulungsweg so beschaffen sein, daß er in jedem Berufsleben ausgeübt werden kann. Der rosenkreuzerische Schulungsweg ist so gestaltet, daß er keinen Rückzug von der Welt verlangt. Er ist sogar so gestaltet, daß er nur voll erblühen kann, wenn der Mensch in der Handhabung des Lebens, in der Umgestaltung und Vermenschlichung der Verhältnisse steht. Und nirgendwo ist dies vielseitiger und universeller der Fall als im Haushalt. Deshalb ist der Haushalt der Ausgangspunkt der neuen Mysteriengesellschaft."
Der Autor geht noch weiter: Die "Hausmutter" hat sich ihren Beruf nicht nur als Schicksal (Karma) selbst gewählt, sie erfüllt darin sogar eine priesterliche Aufgabe, von der zu wissen ihr sicher hilft, das schwere Los nicht mehr ergeben, sondern jetzt stolz und selbstbewußt zu tragen:
"Fragt die Hausmutter danach, warum sie in dieses Leben inkarniert wurde, wird sie eine Art Gewißheit erhalten: Sie lebt dieses Leben, weil mit diesem Beruf ein neuer Wert auftaucht; sie lebt dieses Leben, weil durch ihr Hausmutterdasein eine priesterliche Kraft entsteht, die bereits in den alten Mysterien durch Priesterinnen wirkte. Die Hausmutter steht dort, wo sich etwas bewegt, wo sich etwas bewegen muß, soll nicht die ganze Zivilisation und Kultur zugrunde gehen."
An keiner Stelle des Buches wird auf die Frage eingegangen, warum ausschließlich die Frau mit den Aufgaben des Haushaltes betraut wird. Gerade wenn es um die Begründung einer "neuen Mysteriengesellschaft" geht, stellt sich die Frage, warum die Männer von dieser Kulturtat ausgeschlossen werden und damit die Trennung der Geschlechter im Sozialen zementiert bleibt. Warum kann nicht auch ein Mann "Hausmutter" sein - und wie würde diese Funktion dann heißen?


Schmidt-Brabants Intentionen wirken naiv gegenüber der Wirklichkeit. Sein Familienmodell geht davon aus, daß Frauen durch ihren Ehemann finanziell abgesichert sind, daß sie sich also ohne existentielle Risiken ausschließlich der Familienarbeit widmen können und sollen. Damit zusammenhängend sind Frauen heute immer stärker auf den Beruf orientiert und stehen für unbezahlte Versorgungsleistungen an Kindern und Alten, die immer noch von ihnen erwartet werden, zunehmend weniger zur Verfügung. Die traditionelle Familienform hat längst ihre Monopolstellung eingebüßt.

Die Soziologieprofessorin Elisabeth Beck-Gernsheim zeigt, daß sich in unserer Gesellschaft eine Vielzahl von Lebens- und Beziehungsformen herausgebildet hat. Sie führt diese Tatsache auf den "Individualisierungsschub" der letzten Jahrzehnte zurück, der auch Familie, Ehe und Elternschaft nachhaltig beeinflußt und verändert habe.

"Das heißt nicht, die traditionelle Familie verschwinde, löse sich auf. Aber offensichtlich verliert sie das Monopol, das sie lange besaß. Ihre quantitative Bedeutung nimmt ab, neue Lebensformen kommen auf und breiten sich aus, die nicht oder jedenfalls nicht zumeist auf Alleinleben zielen, eher auf Verbindungen anderer Art: z.B. ohne Trauschein oder ohne Kinder; Alleinerziehende, Fortsetzungsfamilien oder Partner desselben Geschlechts; Wochenendbeziehungen und Lebensabschnittsgefährten; Leben mit mehreren Haushalten oder zwischen verschiedenen Städten. Es entstehen mehr Zwischenformen und Nebenformen, Vorformen und Nachformen; das sind die Konturen der 'postfamilialen Familie'."
Aber auch die Ehe als solche hat einen inneren Bedeutungswandel erlebt, und zwar "von einer Bindung, die selbstverständlich ein Leben lang gilt, zu einer Bindung, die nur unter bestimmten Bedingungen aufrecht erhalten wird." Genauso sind alle anderen Beziehungen der Moderne davon gekennzeichnet, daß ihr Aufrechterhalten "kein selbstverständlicher Akt mehr (ist), sondern eine freiwillige Handlung".

Beck-Gernsheim weist darauf hin, daß diese Veränderungen große gesellschaftliche Fragen aufwerfen. Je weniger die Frauen als 'heimliche Ressource' im Generationenverhältnis zur Verfügung stehen, umso dringender müssen Antworten auf die Frage gefunden werden, wie, von wem und unter welchen Bedingungen in Zukunft die Kinder und Alten in unserer Gesellschaft versorgt werden sollen. Die Beschwörung der traditionellen Familie hilft hier angesichts der Entwicklungen wenig. Beck-Gernsheim zitiert den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog, der in einer öffentlichen Rede die Verantwortung der Männer sehr deutlich herausstellte:

"Innerhalb der Familie muß geklärt werden, wie die Verantwortung für die Betreuung und Erziehung der Kinder mit den beruflichen Möglichkeiten und Plänen (...) in Einklang gebracht werden können. Dies stellt vor allem Rückfragen an die Männer, die bislang nur allzugern akzeptieren, daß die entstehenden Konflikte nur von den Frauen gelöst werden."
Beck-Gernsheim kommt zum Schluß, daß diese Fragen nur auf der Basis neuer Rollen- und Arbeitsverteilungen von Männern und Frauen zu lösen sind. Denn
"... falls trotz all der Diagnosen sich nichts bewegt in der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen und bei der Versorgung von Kindern und Alten, dann ist völlig offen, auf welchen Fundamenten das Verhältnis der Generationen in Zukunft aufbauen soll. Direkt formuliert: Ohne Geschlechtervertrag kein Generationenvertrag. Die Zukunft des Generationenvertrags wird davon abhängen, ob es gelingt, das Geschlechterverhältnis neu zu gestalten."

In dieser Situation legt Udo Rauchfleisch, Professor für klinische Psychologie an der Psychiatrischen Universitätspoliklinik Basel, ein Buch vor, das den positiven Wert "alternativer Familienformen" hervorhebt. Es handelt von den drei am meisten diskriminierten unkonventionellen Formen des Zusammenlebens.

Zuerst die sogenannten Eineltern-Familien: In den Fällen von Scheidung der Eltern oder Tod des einen Elternteils haben die Kinder zwar zunächst meist eine Krisensituation zu bewältigen, hervorgerufen durch den Verlust (obwohl es für manche Scheidungskinder sogar eine Erleichterung ist, wenn der Streit zwischen den Eltern aufhört). Weitere Belastungen entstehen vielen Eineltern-Familien aus der wirtschaftlichen Schlechterstellung -- ungleiches Einkommen von Frauen und Männern, Ausschluß von finanziellen Vergünstigungen u.a. -- und vor allem aus der Diskriminierung Alleinerziehender. Diese sozialen Einschränkungen führen jedoch keineswegs automatisch zu Schädigungen der Kinder:

"Aufgrund der uns heute vorliegenden zahlreichen Untersuchungen zur Entwicklung von Kindern, die in Eineltern-Familien aufwachsen, darf als erwiesen gelten, daß Kinder aus Eineltern-Familien in keiner Hinsicht unter schlechteren Entwicklungsbedingungen aufwachsen als Kinder aus traditionellen Zwei-Eltern-Familien. Sie weisen nicht häufiger psychische oder soziale Störungen auf, sondern verfügen oft sogar über bessere soziale Kompetenzen und eine größere psychische Reife als Kinder aus Zwei-Eltern-Familien. Sie sind eher in der Lage, Verantwortung zu übernehmen, zeigen häufig eine größere Kooperationsbereitschaft, sind sensibler für gesellschaftliche Diskriminierungen und verfügen über flexiblere Rollenauffassungen von Mann und Frau als Kinder aus traditionellen Familien. Damit erweist sich die vielfach in den Massenmedien wie zum Teil auch in der Fachliteratur unkritisch verbreitete Ansicht, Eineltern-Familien und ihre Kinder zeichneten sich durch besonders viele Probleme aus, als ein nicht der Realität entsprechendes, von Vorurteilen geprägtes Klischeebild."
Schwerer werden sich manche bei der zweiten alternativen Familienform tun, den gleichgeschlechtlichen Paaren. Scheint doch unübersehbar, daß Kinder, die innerhalb lesbischer oder schwuler Partnerschaften aufwachsen, einer Fülle zusätzlicher Probleme gegenüberstehen -- egal ob sie von einem der Partner oder einer der Partnerinnen in die Beziehung mitgebracht, ob sie (etwa durch künstliche Befruchtung) in diese Beziehung hineingeboren oder ob sie adoptiert wurden. Selbst unter modernen, aufgeklärten und toleranten Zeitgenossen ist die Meinung, daß schwule oder lesbische Paare einen geeigneten Nährboden für das Aufwachsen von Kindern abgeben könnten, noch relativ selten anzutreffen. Die Klischees sind vielfältig: Schwule seien "weiblich (bzw. Lesben männlich) identifiziert" und könnten den Kindern keine adäquaten Vorbilder und Identifikationsobjekte abgeben; sie seien eine Verführungsgefahr für die Kinder; ihre Beziehungen seien viel weniger stabil als die der Heterosexuellen; und sie seien überhaupt Außenseiter und würden ihre Kinder dem Gespött der Gleichaltrigen aussetzen. Auch hier wieder belegt der Autor, daß diese Klischeebilder jeder empirischen Grundlage entbehren. Aufgrund einer Vielzahl angeführter wissenschaftlicher Studien zieht er den Schluß,
"daß die Befürchtung, Kinder lesbischer und schwuler Eltern, die in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften leben, könnten eine in intellektueller, emotionaler oder sozialer Hinsicht negative Entwicklung durchlaufen, völlig unberechtigt ist. Diese Kinder entwickeln sich vielmehr so wie vergleichbare Kinder aus heterosexuellen Familien. In Bezug auf Empathie gegenüber anderen Menschen und Gleichberechtigung in der Partnerschaft lassen sie sogar eine größere Sensibilität erkennen. Dieser Befund steht in Übereinstimmung mit der Entwicklung von Kindern aus Eineltern-Familien: Diese in nicht-traditionellen Strukturen aufwachsenden Kinder lernen in ihren alternativen Familienformen ein Beziehungsmodell kennen, das nicht durch patriarchale Machtstrukturen geprägt ist, sondern in starkem Maße partnerschaftlich orientiert ist und die Gleichberechtigung der lesbischen Partnerinnen respektive der schwulen Partner betont. Lesbische Mütter und schwule Väter sind in gleicher Weise befähigt, Kinder zu erziehen, wie heterosexuelle Eltern."
Rauchfleisch fordert als Konsequenz aus diesen Erkenntnissen, die gegenüber Lesben und Schwulen nach wie vor bestehenden Vorurteile radikal abzubauen:
"Je mehr die Entpathologisierung der Homosexualität gelingt, desto leichter haben es lesbische und schwule Menschen auch, ihre Homosexualität zu akzeptieren und sich in einem erfolgreichen Coming-out-Prozeß ihrer Umgebung mit ihrer sexuellen Orientierung zu zeigen. Dadurch wird ihre Lebenssituation einfacher, und dies wirkt sich wiederum entspannend auf ihre Beziehung zu ihren Kindern aus."
Die dritte Form alternativer Familien, die Hausmänner, scheinen eine weit weniger diskriminierte Gruppe zu sein als Schwule und Lesben. Denkt man aber an die zentrale These Rauchfleischs, "daß in erster Linie Männer fürchten, die alternativen Familienformen könnten zur Auflösung patriarchaler Strukturen und damit zu einem Verlust männlicher Macht führen", muß man annehmen, daß sich auch der Veränderung bis hin zur Umkehr der festgefügten Rollen von Frau und Mann erhebliche Widerstände entgegenstellen. Selbst wo z.B. die Möglichkeit besteht, Vaterschaftsurlaub zu nehmen, wird sie noch viel zu selten wahrgenommen. Allerdings sind auch hier wieder starke gesellschaftliche Hemmfaktoren wirksam: Viele Männer, die sich gerne mehr in Kindererziehung und Hausarbeit engagieren würden, gehen stattdessen als Alleinverdiener arbeiten, weil sie wesentlich mehr verdienen als ihre Partnerin.

Die Auswirkungen häuslichen Rollentauschs auf die in solchen Beziehungen aufwachsenden Kinder werden als ebenso positiv bezeichnet wie die der anderen bereits dargestellten Familienformen. Über alle zusammen heißt es dann:

"Die in solchen Familien feststellbare positive Entwicklung beruht insofern wohl weniger auf dem Geschlecht der jeweils primär betreuenden Person, sondern dürfte vor allem dadurch bedingt sein, daß diese Eltern in ihren eigenen Rollenvorstellungen und Lebensweisen wesentlich offener, experimentierfreudiger und kreativer sind als viele Eltern aus Familien mit traditioneller Rollenverteilung."
Im letzten Teil des Buches untersucht Rauchfleisch noch einige psychologische Theorien, insbesondere aus der Tiefenpsychologie, die die besondere Bedeutung von Vater und Mutter als gegengeschlechtliche Eltern für die heranwachsenden Kinder betonen. Er versucht, den Widerspruch zu den zuvor dargestellten Ergebnissen aufzuklären, und kommt zu dem Schluß, daß
"nicht die leibliche Präsenz der Mutter oder des Vaters oder beider Elternteile im Familienverband notwendig ist, damit die Kinder eine ungestörte Entwicklung durchlaufen. Von zentraler Bedeutung sind vielmehr zwei Bedingungen: Es muß ihnen eine konstante Bezugsperson zur Verfügung stehen, die ihnen ein fundamentales Gefühl von Sicherheit und Selbstvertrauen vermittelt. Diese primäre Bezugsperson muß die Beziehung des Kindes zu einem 'dritten Objekt' (weiblichen oder männlichen Geschlechts) außerhalb des Familiensystems bejahen. Auf diese Weise eröffnet der beziehungsweise die außerhalb stehende Andersartige den Weg aus der symbiotische Züge aufweisenden Dyade des Kindes zum primär versorgenden Elternteil."
Moderne psychoanalytische Entwicklungskonzepte gehen, so Rauchfleisch, auch nicht mehr von der Mutter oder dem Vater als Person aus, sondern meinen nur noch deren Funktion -- das Geschlecht spiele dabei erst in zweiter Linie eine Rolle.


Literatur:

Beck-Gernsheim, Elisabeth: Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen. München 1998 (Beckísche Reihe)

Rauchfleisch, Udo: Alternative Familienformen. Eineltern, gleichgeschlechtliche Paare, Hausmänner. Göttingen 1997 (Vandenhoek & Ruprecht)

Schmidt-Brabant, Manfred: Spirituelle Grundlagen einer menschengemäßen Hausmütter-Arbeit. Dornach 1993 (Verlag am Goetheanum)


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