aus: Info3, Die etwas andere Zeitschrift zum Thema Anthroposophie, Nr. 9/1993



 
 

"Ich habe ein ehrliches Leben als Heterosexueller geführt -- bis auf die Träume..."


Interview mit einem schwulen Mann
 
 

Was ist für Sie das Wichtigste an Ihrer Lebensform?

Als verheirateter schwuler Mann ist es mir geglückt, ohne Verbitterungen beide Seiten auszuleben, die Familie und mein schwules Leben. Meine drei erwachsenen Kinder und meine Frau leben von mir getrennt, wir besuchen uns aber, tauschen uns aus und nehmen alle Probleme gemeinsam wahr. Mein heutiges Leben ist sehr interessant geworden dadurch, daß ich viele schwul lebende Menschen kennenlernte. Ich lebe ohne Schuldgefühle und fühle mich freier als vorher. Es ist schön, mit 56 Jahren -- in einem Alter, wo für die meisten das Leben in dieser Beziehung aufgehört hat -- so viel Neues erleben zu können. Das verdanke ich auch der geistigen Beweglichkeit und Schulung durch die Anthroposophie.

In welcher Situation haben Sie der Familie Ihre Homosexualität offenbart?

Etwa zwanzig Ehejahre lagen hinter mir. Ich hatte heimliche Wünsche, die sich in Träumen offenbarten, mit Männern zusammen zu sein. Vor der Ehe wurden mir ein paarmal Avancen gemacht, auf die ich aber nicht einging. Das Bedürfnis kam erst nach zwanzig Ehejahren heraus. Es war vorher nicht unterdrückt, sondern bekam erst dann seine Bedeutung. Ich habe in der ersten Lebensphase ein ehrliches Leben als Heterosexueller geführt und mich nicht als schwul empfunden -- bis auf die Träume…

Wie mühsam war der Schritt, als diese Träume Wirklichkeit wurden?

Angst galt es zu überwinden; Mut zu zeigen, den Menschen, mit denen ich umgehe, zu sagen, wie ich denke und fühle. Das fing an, als ich begann, auf Anzeigen zu schreiben — zum Beispiel lernte ich den Arbeitskreis "Anthroposophie und Homosexualität" über eine Anzeige kennen. Das erforderte Mut: Wer weiß, was dahintersteht, das war doch alles anonym. In dieser Gruppe traf ich Menschen aus allen Bildungsschichten, auch Waldorflehrer, Eurythmisten, Sprachgestalter... Von ihnen lernte ich, daß es möglich ist, Ja zu sagen -- sie hatten teilweise noch größere Ängste als ich. Auch Priestern begegnet ich auf meinem Lebensweg; in ihrer Begrenztheit und Angst lebten sie viel versteckter als die, die sich begannen freizuschwimmen als Mitglieder dieser 'homosophischen' Arbeitsgruppe.

Hätten Sie gerne eine Lebensform gefunden, in der beides vorkommt: Frau und Kinder, aber auch das Leben mit homosexuellen Partnern?

Ich hatte solch eine Freundschaft, ich liebte diesen Mann und nahm ihn in meine Wohnung, in der auch noch eine meiner Töchter lebte. Wir haben praktisch ein Leben zusammen geführt. Meine Frau wußte von unserer Beziehung, sie mochte diesen Mann und hat ihn sogar beschenkt. Das war eine außerordentlich glückliche Situation -- aber leider nur eine Übergangslösung.

Wünschen Sie sich, Sie hätten früher als Homosexueller leben können?

In meiner Ehe habe ich glückliche Zeiten erlebt; meiner Frau habe ich viel zu verdanken und ich möchte sie aus meinem Leben nicht wegdenken. Aber ich weiß nicht, ob sie mit mir zusammengeblieben wäre, wenn ich ihr früher offenbart hätte, daß ich schwul leben will. Ich habe es so lange wie möglich geheimgehalten, bis die Kinder groß waren, damit ich es ihnen erklären konnte. Ich hatte die Befürchtung, meine Kinder könnten persönlich unglücklich werden, so wie ich es auch als Kind streckenweise war mit meinen Eltern und aufgrund meiner Erlebnisse. Ich war sogar bereit zu lügen, um den Kindern Verletzungen zu ersparen: daß die Kinder sozial nicht akzeptiert würden, weil sie einen schwulen Vater haben. Was ich selber befürchtet und bei anderen erlebt habe, hätte selbstverständlich auch meine Kinder betroffen: die Ausgrenzung von Schwulen und ihrer Familie in einer Kleinstadt. Ich habe oft in Unterhaltungen sogenannter heterosexueller Menschen gehört, unter den Schwulen seien außerordentliche Begabungen, wie sehr man sie schätze und wie freundlich und höflich sie im Umgang seien. Warum lehnten diese Menschen dann aber einen Umgang mit ihnen ab? -- Gegenüber einem schwulen Sozialarbeiter muß man ja eine noch viel größere Toleranz aufbringen. Im Laufe meines Berufslebens habe ich bei Fortbildungen immer wieder schwul lebende jüngere und ältere Männer getroffen, die alle untergetaucht waren, die zwei Leben führten, die selbst bei psychotherapeutischen Lehrgängen niemals die Wahrheit sagten. Kann das überhaupt Therapie sein, wenn diese allerwichtigsten und intimsten Dinge nicht zur Sprache kommen können, weil sie nicht akzeptiert würden?

Welche Hilfe hat Anthroposophie Ihnen gegeben bei dem Prozeß, zu Ihrer homosexuellen Orientierung zu stehen?

Ich habe gespürt: Die sichere freiheitlich-geistige Grundlage der Anthroposophie muß auch im persönlichen sexuellen Leben gelten. Was ist das für eine Freiheit, wenn dieser Teil des Lebens unterdrückt wird -- andern zuliebe, der Gesellschaft zuliebe, damit nichts Negatives nach außen aufkommt? Ich hatte immer den heimlichen Wunsch, den Anthroposophen davon Mitteilung zu machen, die ich schätzte und achtete. Wobei ich aber nie sicher sein konnte, angenommen zu werden, deswegen habe ich es nie versucht.

Sie sind nie zu einem anthroposophischen Arzt gegangen und haben gesagt "Heilen Sie mich!"?

Nein, ich brauche keine Heilung, ich fühle mich wohl, so wie ich bin. In früheren Jahren wäre es möglich gewesen, im Sozialen einen Weg zu beschreiten, wenn ermutigende anthroposophische Erfahrungen oder Ansichten bekannt gewesen wären. Aber dann habe ich Tagungen erlebt, bei denen die Dinge nach althergebrachter Art behandelt wurden; ich bemerkte eine starke Unsicherheit, sich zu dem Thema überhaupt zu äußern, und man war peinlich berührt, daß es das überhaupt gibt. In Seelsorger-Gesprächen waren Antworten zu hören wie zum Beispiel "Sie sind zu tief in Ihren Leib gerutscht!".

Inzwischen haben sich die Dinge geändert: Ernstzunehmende anthroposophische Ärzte betreuen eine große Zahl von AIDS-Patienten, führen Arbeitskreise durch und arbeiten therapeutisch. Es muß immer erst eine Zeit vorübergehen, auch diesen Menschen muß Angst genommen werden. Vieles hat sich positiv verändert, beispielsweise im praktischen Umgang mit AIDS-Kranken. Es ist zu hoffen, daß davon eine Breitenwirkung auf die Mitglieder der anthroposophischen Gesellschaft ausgeht, die diese Arbeit ja achten und aus sozialer Verantwortlichkeit zum Teil sehr unterstützen. Viele Menschen haben durch AIDS die Chance, Homosexuelle kennenzulernen -- die meisten, die vorher darüber sprachen, haben gar keine oder eine sehr beschränkte Auswahl kennengelernt. Ich habe selbst ehrenamtlich über zwei Jahre in der AIDS-Hilfe mitgearbeitet und Erfahrungen gesammelt.

Daß viele Menschen auf Homosexuelle sehr sensibel und abwertend reagieren, ist ja eine ganz allgemeine Erfahrung. Haben Sie solche Erfahrungen auch in anthroposophischen Kreisen gemacht?

Zunächst möchte ich hervorheben, daß es mich hoffnungsvoll stimmt, wenn Sie als altgedientes Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft überhaupt Fragen dieser Art stellen. Aber ich kenne auch Beispiele krasser Ablehnung. Ich weiß das von Priestern, die sehr darunter gelitten haben, oder von Gesprächen in Dornach, wo man äußerte, daß man die anthroposophische Gesellschaft mit diesem Schmutz zufrieden lassen soll. Ich habe aber mit niemandem über meine eigene Homosexualität gesprochen. Ich habe das nie wie ein Schild vor der Brust getragen -- wenn ich aber gefragt würde, könnte ich es sagen, ohne Schwierigkeiten.

Ist das nicht ein Widerspruch: daß die Anthroposophie als Gedankengebäude oder Intention Hilfe bietet, als real gelebte Lebensform aber verhindert, mit so etwas offen umzugehen?

Für mich deutet das darauf hin, daß die anthroposophische Gesellschaft als Ganze Angst zeigt. Dahinter stehen, wie bei anderen Institutionen auch, wahrscheinlich Existenzängste, Angst vor übermäßiger Kritik und Angst vor Gesichtsverlust, Angst ums Ansehen.

Das ist doch so ähnlich wie früher in den kommunistischen Kaderparteien, wo man die sexuelle Frage immer als "Nebenwiderspruch" bezeichnet hat…

So könnte man sagen. Auch freiheitliche Gedanken anderer Fachgebiete kommen ja im anthroposophischen Leben oft nicht zum Durchbruch.

Habe ich das richtig verstanden: Sie meinen, die Anthroposophie sollte rein gehalten werden von solchen "Schandflecken", damit sie sich in der Welt durchsetzen kann und nicht beeinträchtigt wird durch allzu peinlich-Persönliches? Das Ansehen der Anthroposophie war wichtiger als daß ein Mensch sich auslebt, offen ist, Druck verliert und ein freies Gewissen hat? Man soll sich der Sache opfern -- der Partei opfern? Man stellt das persönliche Leben in den Dienst der Sache, und das wird auch noch gefordert…

Gefordert und durchgesetzt -- das geht ja bis hin zu Entlassungen. Auch aus anderen Gründen hat es ja Ausschlüsse aus der anthroposophischen Gesellschaft gegeben, z.B. wenn man die Geschichte der Weihnachtstagung betrachtet — im Katholischen heißt das Exkommunikation. Was hat das mit freiem Geistesleben zu tun?

Hat Ihnen die Anthroposophie auch mehr Orientierung und Klarheit gegeben in Partnerbeziehungen?

Man lernt den anderen besser sehen auf seinem Erdenweg, man findet eine Perspektive, mit ihm -- nicht missionarisch, aber doch so zu sprechen, daß es Gemeinsamkeiten zu entdecken gibt, gemeinsame menschheitliche Lebenswege. Das ist aber ein Idealzustand.

Konnten Sie da auch anderen, die der Anthroposophie ferner standen, weiterhelfen?

Ich habe eine Beziehung -- die ist nicht so glücklich, wie ich sie mir wünsche --, dieser Mann weiß viel von Anthroposophie, spricht aber nie darüber. Wir befinden uns in einem inneren Gleichklang, wir freuen uns immer, wenn wir zusammen sind, und spüren, daß wir das gleiche denken, ohne daß wir viel darüber reden müssen. Er möchte mir das Herz nicht schwer machen, weil er sich noch an einen anderen Mann gebunden fühlt, und er fürchtet immer, daß es, wenn wir darüber mehr sprechen, in seiner Beziehung Probleme gibt. Aus verschiedenen Gründen möchte er sich von dem Partner nicht zu sehr entfernen, es ist ein sehr viel älterer Mann, der auch Rechte an ihn hat. Das akzeptiere ich, und ich bin mit ihm gut, trotzdem. Ich habe gelernt, daß man einen Menschen nicht für alles haben kann, sondern dieser Mensch ist für dieses, der andere ist für jenes und der dritte Mensch ist für wieder etwas anderes mein passender Partner.

Aber zurück zur Anthroposophie: Ich bin sehr froh und dankbar für diese Geisteshaltung und die echte Lebenshilfe. -- Auf der einen Seite hat sich der real existierende Sozialismus als Seifenblase erwiesen, und unsere sogenannte freie kapitalistische Marktwirtschaft erweist sich ja auch zunehmend als eine solche. Das einzige, was bleibt, ist, dieses konkret philosophisch-anthroposophische Denken als Lebenshilfe anzuwenden.

Welche Erfahrungen haben Sie gemacht mit jüngeren Partnern, als Sie sich entschlossen hatten zu einem schwulen Dasein?

Mein erster Partner war ein Mensch, den ich lieben konnte, zwanzig Jahre jünger als ich. Er hat mich mitgerissen und es verstanden, obwohl er selber viele negative Erfahrungen in der Schwulenszene hatte, mich daran gar nicht teilnehmen zu lassen: Ich war einfach glücklich mit ihm. Ich habe aber auch eine Menge Negatives erlebt. Angefangen bei dem Eindruck, daß die Bindungsfähigkeit in schwulen Kreisen sehr gering ist. Und mich hat gestört, was ich früher als Mann gar nicht kannte, daß ich abgelehnt wurde nur aufgrund meiner 56 oder damals 50 Jahre. Ich habe aber auch den Umgang mit einem älteren oder gleichaltrigen Mann zeitweilig sehr genossen -- wenn es auch nur kürzer war, aber ich konnte viel von solchen Menschen mitnehmen, die mein Leben bereicherten, weil sie durch ihr Schicksal zu einer gewissen ausgewogenen Lebensweise gekommen waren.

Die Verbindung zwischen einem jüngeren und einem älteren Mann hat doch sehr oft etwas wie eine Vater-Sohn-Beziehung. Haben Sie das auch erlebt?

Das wird oft gesucht. Bei diesem ersten, sehr viel jüngeren Mann war viel Unterstützung und Hilfe notwendig. Aber ich empfand das nie als Vater-Sohn-Beziehung, sondern ich konnte ihm einfach helfen -- so wie ich z.B. den Freunden meiner erwachsenen Töchter mit manchem Gespräch helfe. Das ist alles nichts spezifisch Schwules, sondern allgemein-menschliches Verhalten, das nur im Schwulenbereich manchmal anders gegriffen werden muß.

Bei gleichaltrigen Partnern ist der Wille ausgeprägter. Die Menschen wissen, was sie wollen: entweder nur eine lockere, schnelle Beziehung, ein Erlebnis -- auch ein sexuelles --, und das äußern sie deutlich. Oder eine längerdauernde Beziehung, getragen von dem Bewußtsein, sich ein Leben zusammen aufbauen und auch Schwierigkeiten miteinander aushalten zu können und zu wollen.

Wünschen Sie sich eine schwule Ehe?

Ja. Ich hätte jetzt in meinem Alter gerne einen Menschen für die allergeheimsten und allerintimsten Dinge, die sich nicht unbedingt nur auf die Sexualität beziehen, sondern wo man wirklich sagen kann: Mit dem kannst du alles besprechen, wo man eben doch die Heimlichkeit und Diskretion gegenüber manchem Freund hat. Mit einem Menschen, mit dem man in einem Haushalt zusammenlebt, fällt von vorneherein vieles weg und man ist sehr viel offener über alles -- ob man nun eine sexuelle Beziehung hat oder nicht, das spielt dabei gar keine Rolle.

Wie ist das mit der Eifersucht, wenn der Freund andere Begegnungen hat?

Mit zunehmendem Alter wird das alles nicht mehr so wichtig. Im Gegenteil: Mit diesem anthroposophisch interessierten Mann, den ich vorhin erwähnte, der mit mir keine Beziehung eingehen kann, habe ich darüber gesprochen. Es wäre mir furchtbar zu wissen, daß er unglücklich ist, weil ich seine Beziehung kaputt mache. Wer geliebt wird, soll doch glücklich sein. Ich habe gelernt, daß positive Gedanken tragend und kraftgebend sind und sich helfend auswirken -- und wenn es nur in einer Bedrückung, in der man lebt, ein kurzes Telefongespräch ist. Wenn uns der anthroposophische Lebensweg etwas lehrt, dann Bescheidenheit.

Mit depressiven Phasen muß ich umgehen. Ich will nicht den Fehler machen, mit einem Menschen zu leben, bei dem ich nach einer Zeit merke, daß ich mehr Unglück ernte als Freude. Als ich mich von meiner Familie trennte, sprang ich sozusagen ins kalte Wasser. Und so schnell wärmt man einen kalten Bergsee nicht auf!

Die Fragen stellten Leonore und Antonio Engel

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